38
Das Porträt von Birdie und mir ist fast fertig. Der Hintergrund sieht gut aus; unsere Gesichter sind noch leer. Ab und zu schleichen wir uns nach oben und inspizieren es nur um zu überprüfen, ob Mr. Radley wirklich daran arbeitet. Manchmal kommt mir die verrückte Idee, dass er uns gar nicht malt, sondern nur so tut und uns jeden Tag zu seinem Vergnügen auf dem Dachboden gefangen hält. Ich weiß zwar nicht, wieso er das tun sollte, aber es würde mich auch nicht überraschen.
Mr. Radley steht zaudernd vor der Staffelei. Er hat immer Probleme, mit den Figuren anzufangen, sagt er. Eine Art Malblockade. Birdie fragt, wieso er dann keine Stillleben malt. Oder Landschaften. Er sagt, wenn er ihre Meinung hören will, lässt er es sie wissen. Bis auf Clarissa, die wieder mal am Schnorren ist, sind wir die Einzigen im Haus. Diesmal hat sie es auf Lexis Golfschläger abgesehen. Sie hat einen neuen Freund und kann es kaum erwarten, ihm das Spiel beizubringen. Lexi ist früh zum Friseur gegangen und immer noch nicht zurück. Mr. Radley sieht ständig auf die Uhr. Nicky, Frances und Rad sind mit einem von Nickys Freunden vom King‘s College windsurfen gegangen. Als Nichtschwimmerin und Angsthase ist das ohnehin kein Vergnügen für mich. Am Abend wollen wir alle zusammen essen gehen - das kriege ich hin. Ich verstehe meine Beziehung zu Rad immer noch nicht besser. In gewisser Weise scheint er mich zu behandeln, als wäre ich seine Freundin, aber seit jenem Tag in Half Moon Street achtet er darauf, mich nicht zu berühren, wenn wir allein sind. Jetzt möchte ich es; jetzt tut er es nicht. Ich bin mir nicht sicher, was läuft. Er wird es mir nicht sagen, und ich werde nicht fragen.
Von unten sind ein unglaubliches Gepolter und ein paar gewählte Ausdrücke von Clarissa zu hören. Ich kann mir den Grund denken: Beim Herausholen der Golftasche aus dem Flurschrank ist eine Lawine aus Mopp, Besen, Eimern, Bügelbrett, Staubsauger und Kabeln heruntergegangen. Das passiert jedes Mal. Mr. Radley wagt sich nach unten, um der Sache nachzugehen. Birdie und ich entspannen und strecken uns. Das Telefon klingelt und wird abgenommen. »Oh«, sagt er. »Oh, in Ordnung ...« Er klingt enttäuscht. »Was ist mit dem Essen? Soll ich dir was aufheben? Okay, gut. Wo bist du überhaupt? ... Ach wirklich?« Seine Stimme wird hart. »Kann ich sie mal sprechen? ... Nein, das dachte ich mir schon, denn Clarissa ist rein zufällig gerade hier.« Und der Hörer wird aufgeknallt.
Birdie und ich sehen uns nervös an. »Worum ging es denn?«, flüstert sie.
Ich schüttele den Kopf. Ich habe nur Angst, dass Mr. Radley jede Minute wütend zurück nach oben kommt und es an uns auslässt. Aber das tut er nicht. Wir hören, wie die Haustür klickt und Clarissas Auto startet. Nach etwa fünf Minuten schleichen wir uns nach unten. Im Wohnzimmer sind die Vorhänge noch zugezogen, obwohl Spätnachmittag ist, und Mr. Radley sitzt dort im Dunkeln. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn wir uns wortlos zurückziehen, weiß er, dass wir mitgehört haben. Wenn wir ganz harmlos tun und fragen, wo er bleibt, knurrt er uns vielleicht an.
»Komm, wir gehen«, sagt Birdie. Das nimmt mir die Entscheidung ab, und wir gehen jeder zu sich nach Hause.
Gegen sechs gehe ich zurück. Ich will das Essen nicht verpassen. Die anderen werden inzwischen wahrscheinlich zurück sein und sich fragen, wo ich bin. Aber als ich ankomme, ist das Haus still. Die Wohnzimmervorhänge sind immer noch zugezogen, aber Mr. Radley ist nicht da. Ich beschließe, ein Bad zu nehmen, bevor die anderen kommen und das ganze heiße Wasser für sich beanspruchen. Obwohl ich »offiziell« wieder zu Mutter gezogen bin, übernachte ich immer noch oft in Frances‘ Zimmer und habe den Großteil meiner Lieblingsklamotten hier. Mutter und ich sind wieder vollkommen versöhnt, aber es fällt mir nach wie vor schwer, lange mit meiner Granny zusammen zu sein. Sie hat sich nicht entschuldigt oder zugegeben, dass sie an der Krise eine Mitschuld hat.
Während ich im Bad bin, höre ich, dass jemand gekommen ist. Schwindelig, vom überheißen Wasser verschwollen und in ein extra großes Handtuch gehüllt, komme ich aus dem Bad und stoße mit Lexi zusammen, die zwei riesige Koffer über den Treppenabsatz zerrt. Sie sieht leicht ramponiert aus und ist nicht besonders erfreut, mich zu sehen.
»Hallo«, sage ich. »Fährst du in Urlaub?«
»In gewisser Weise. Fass mal mit an, ja?« Es scheint ihr nicht aufzufallen, dass ich nur ein Handtuch trage. Ich umklammere es, nehme einen Koffer und humpele hinter ihr die Treppe hinunter.
»Ich habe einen goldenen Ohrring mit einer Perle verloren«, sagt sie in der Tür und zieht an ihrem Ohrläppchen. »Wenn du ihn findest, heb ihn für mich auf.« Das sind ihre letzten Worte an mich.
Ich stehe in BH und Schlüpfer vor Frances‘ Schrank, als Mr. Radley hereinkommt. Mein halb bekleideter Zustand scheint ihm nichts auszumachen oder auch nur aufzufallen, sondern er geht schnurstracks zum Fenster und sieht hinunter, wo bis vor ein paar Minuten noch Lexis Auto stand. Dann setzt er sich aufs Bett und vergräbt den Kopf in den Händen.
»Sie ist weg«, sagt er. »Was soll ich nur tun?«
»Was meinen Sie damit?«, sage ich, obwohl ich es weiß. Irgendwie hat meine bisherige Lebenserfahrung mich gelehrt, dass es unhöflich wäre, sich weiter anzuziehen, während jemand einem erzählt, dass seine Frau ihn verlassen hat, also stehe ich dort in meiner Unterwäsche und warte darauf, dass er es sagt.
»Sie will Lawrence heiraten.«
»Oje. Das tut mir Leid.« Mein Vokabular ist umfangreich, aber mehr bringe ich im Moment nicht zu Stande. Es folgt eine lange Pause. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Stelle auf seinem Hinterkopf anstarre, wo das Haar schütter wird; die Kopfhaut darunter ist gebräunt und glänzend.
»Ich habe gesagt: ›Wozu willst du ihn heiraten? Du siehst ihn doch sowieso schon jeden Tag.‹ Aber das reicht ihr nicht.«
»Sie wird zurückkommen«, sage ich. »Sie hat wahrscheinlich gerade viel Stress, und da ist sie einfach ausgeflippt.«
Er blickt auf. »Genau das ist es. Sie sagt, sie hat genug davon, sich den Arsch aufzureißen, damit ich rumsitzen kann. Sie sagt, Lawrence wird sie anständig versorgen. Weißt du. was sie gesagt hat? ›Ich bleibe zu Hause. Vielleicht fange ich sogar an zu malen.‹«
»Sie Armer.« Ich stehe vor Verlegenheit Todesqualen aus und sehe keinen Ausweg. Meine Qual steigert sich noch, als er eine Art Schluchzer von sich gibt, blind nach mir greift und mich auf sein Knie zieht. Ich sitze steif wie ein Gartenzwerg. In jedem anderen Zusammenhang würde ich aufspringen und wegrennen - ihm vielleicht sogar eine knallen aber das kann ich jetzt nicht. Seine Arme umschlingen mich sowieso so fest, als würde er versuchen, einen Baum auszureißen. Es ist keine bedrohliche Umarmung, aber trotzdem. Er spürt, wie ich zusammenzucke, denn er sagt in einem Ton, der es fertig bringt, Bitten mit Ungeduld zu kombinieren: »Ach, geh nicht weg. Ich will dich nicht vergewaltigen. Ich will nur jemanden im Arm halten. Wenn es dir so viel ausmacht, umarme ich eben den verdammten Hund.« Darüber muss ich lachen. Sein Griff lockert sich. »Was soll ich tun? Hältst du mich für einen egoistischen Mistkerl? Vielleicht bin ich das auch. Ich dachte, wir wären glücklich. Natürlich wusste ich, dass sie Lawrence schon immer toll fand - er ist ein gut aussehender Mann. Findest du, dass er gut aussieht? Ich habe sie nie davon abgehalten, mit ihm auszugehen.« Er schwafelt weiter und scheint keine Antwort zu erwarten, wofür ich dankbar bin, weil ich keine weiß. »Sie will nicht mal was. Sie hat gesagt, ich kann das Haus haben - so glücklich ist sie, von hier wegzukommen.« Er streichelt geistesabwesend mein Haar: Vielleicht denkt er doch, er hat den Hund im Arm. Ich beschließe, eine Andeutung zu machen, dass mir kalt wird, sobald er eine Pause macht, aber die Worte sprudeln weiter aus ihm heraus. »Sie hat die ganze Zeit darauf gewartet - Gott weiß, wie lang sie das schon plant, dass Mim stirbt. Nicht wegen des Geldes, sondern weil sie sie nicht zurücklassen konnte. Und jetzt, wo sie tot ist bum, das war‘s, sie hat ihre Sachen gepackt und ist gegangen. Frances wird in einem Monat auch auf irgendeine TH gehen, und ich werde allein sein, und Rad wird wieder nach Durham gehen ...« Er kommt nicht weiter, denn in diesem Moment öffnet sich die Tür und Rad erscheint und sagt fröhlich: »Wir sind wieder da - oh!«
Und ich tue das Dümmstmögliche. Ich springe von Mr. Radleys Schoß, als fühlte ich mich schuldig. Als ob da etwas laufen würde. Ich werde zurückgezerrt, weil sich die Schnalle von Mr. Radleys Uhrarmband in meinen Haaren verfängt, und ich stehe in meiner Unterwäsche da, halb nach vorn gebeugt, mit steifem Genick, während er mich gemächlich losmacht, und Rad uns ungläubig anschaut.
»Was geht hier vor?«, sagt er.
»Nichts«, sage ich, schnappe mir mein Kleid und quäle mich mit schamrotem Gesicht hinein. Los, mach schon, sag es ihm, dränge ich Mr. Radley wortlos. Ich kann ihm doch nicht sagen, dass seine Mutter gerade das Haus verlassen hat. Doch Mr. Radley, vor ein paar Minuten noch so schwach und verletzlich, sagt nichts. Und in der Sekunde, die es ungefähr dauert, bis Rads Gesichtsausdruck sich von Verwirrung in Ärger verwandelt, wird mir klar, dass er nicht die Absicht hat, mir zu Hilfe zu eilen; dass er will, dass Rad denkt, da sei etwas gelaufen, und dass ihm egal ist, wenn ich deshalb untergehe.
Rad interpretiert das Schweigen auf die schlimmstmögliche Art. »Raus hier«, sagt er, packt mich plötzlich am Handgelenk und zerrt mich zur Tür. Ich fange an zu schreien. »Hör auf hör auf ich hab nichts getan es ist nicht was du denkst, frag ihn frag ihn.«
»Ich darf dich nicht anfassen, aber du sitzt da und lässt dich von ihm befummeln.«
»Hab ich nicht!«
»Er würde dir sagen, dass er dich liebt. Er würde alles sagen.«
»Es war nicht meine Schuld.«
»Keine Sorge. Ihn hasse ich auch.« Er zerrt mich die Treppe hinunter, vorbei an Nicky und Frances, die fassungslos sind. Growth, den der Lärm geweckt hat und der annimmt, dass Rad angegriffen wird, stürzt sich bellend und schnappend auf mich. Er verbeißt sich in meinen Kleidersaum und schwingt mit wirbelnden Beinen hin und her. Die Rückseiten meiner Waden werden von seinen Krallen zerkratzt.
Mr. Radley ruft in halbherzigem Ton: »Ach, beruhige dich doch, Rad«, was keine große Hilfe ist. Nicky und Frances haben sich immer noch nicht gerührt: Sie haben Rad noch nie in Rage gesehen. Ich auch nicht. Ich bin so schockiert und gedemütigt und habe solche Angst vor weiteren Angriffen von Growth, dass es eine Sekunde später fast eine Erleichterung ist, mich allein draußen vor der Tür wieder zu finden. Nachdem er den Hund mit einem reißenden Geräusch von mir weggezogen hat, sind Rads letzte Worte an mich: »Verpiss dich und komm nie wieder hierher«, bevor er mir die Tür vor der Nase zuknallt.
Ich habe nichts dabei, kein Portemonnaie, keine Schuhe, nichts, aber ich werde nicht an die Tür klopfen und darum bitten. Ich gehe den ganzen Weg auf heißen, splittbedeckten Bürgersteigen zu Fuß zurück. Andere Fußgänger machen einen weiten Bogen um mich: Ich muss aussehen wie aus dem Irrenhaus entsprungen. Mein Kleid ist zerrissen, ich bin barfuß, meine Beine sehen aus, als wären sie mit Dornenzweigen geschlagen worden, und mein Gesicht ist tränenüberströmt. Ich bete, dass niemand zu Hause ist, aber Mutter ist mit einem Seifenspray draußen im Vorgarten, auf Blattlauspatrouille.
»Abigail, was ist los? Wo sind deine Schuhe?«, sagt sie, wodurch sie verrät, wo ihre Prioritäten liegen. Ich habe meine Tränen gerade unter Kontrolle gebracht, aber die Besorgnis in ihrer Stimme lässt mich wieder losheulen. Ich kann ihr nicht sagen, was passiert ist. Es wird ihre seit langem gehegten Vorurteile gegen die Radleys bestätigen: dass sie unzuverlässig sind, wahrscheinlich verrückt, aber ganz bestimmt nicht anständig. Sie wird bissige Bemerkungen darüber machen, dass Lexi ihre Familie im Stich gelassen hat. Schließlich haben sie und mein Vater sich wegen eines moralischen Problems getrennt, nicht weil sie ihre Chancen, glücklich zu sein, erhöhen wollten. Selbst in dieser Extremsituation habe ich das Bedürfnis, die Radleys zu verteidigen - dem Bild, das ich von ihnen habe, loyal zu bleiben.
Mutter lässt Blattläuse Blattläuse sein und bringt mich ins Haus. »Was ist passiert?«
»R-r-rad mag mich nicht mehr«, sage ich zwischen Mitleid erregenden Schluchzern. Genau dieselben Worte muss ich bei meiner alten Freundin und Feindin Sandra benutzt haben, als ich neun war.
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Er will mich nie wieder sehen.« Wir sitzen auf der Treppe, und sie legt den Arm um mich. Einen Augenblick fühle ich mich getröstet, aber dann drängt sich mir die Realität wieder auf.
»Ach Liebling, es tut mir so Leid.« Sie würde mir zu gern sagen, dass ich ohne ihn besser dran bin, dass sie seine löchrigen Pullis, seine langen Haare und seine hochgestochenen Worte nie gemocht hat, aber sie hält sich zurück. Und außerdem macht ihr etwas anderes Sorgen. Sie wird leicht rosa und beißt sich auf die Lippe, bevor sie sehr schnell sagt: »Abigail, ich weiß, du wirst es nicht getan haben, aber hast du mit ihm geschlafen?« Ich schüttele den Kopf, und sie bricht vor Erleichterung fast zusammen.
»Ach, Gott sei Dank.« Für Mutter scheint es damit erledigt zu sein. Ich bin nicht benutzt und danach fallen gelassen worden - nur fallen gelassen, was nichts ist. Für mich jedoch ist der Gedanke, nicht mit ihm geschlafen zu haben, nicht der Trost, der es sein soll. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Ich wünsche mir, ich wäre schwanger. Alles, um die Verbindung aufrechtzuerhalten.
»Bis morgen hat er es sich bestimmt anders überlegt«, sagt sie. Zufrieden darüber, dass wir »es« nicht getan haben, ist sie bereit, mir so viel zuzugestehen. »Du weißt doch, was für ein temperamentvoller Haufen sie sind.« Diesen kleinen Seitenhieb kann sie sich nicht verkneifen.
»Was ist hier für ein Krach?« Meine Großmutter ist von unseren Stimmen aufgewacht. Ich werfe Mutter einen flehenden Blick zu und laufe die Treppe hinauf in mein Zimmer, um Grannys inquisitorischem Empfang zu entgehen.
Sie hat Recht, sage ich mir selbst. In einer Minute wird er anrufen und sich entschuldigen. Mr. Radley wird es ihm erklärt und mich völlig entlastet haben. Rad wird von Gewissensbissen und Schuldgefühlen überwältigt sein. Ich überzeuge mich so vollkommen davon, dass ich schon bald plane, wie ich reagieren werde, wenn er anruft. Großmütig: Wir vergessen einfach, dass es je passiert ist. Vielleicht ein bisschen gekränkt oder sogar tief verletzt. Vielleicht mache ich eine Bemerkung über meine gegeißelten Beine. Während der Abend sich hinzieht, Minute um Minute, und das Telefon schweigt, wird die Reaktion, die ich eingeübt habe, immer versöhnlicher. Ich beginne daran zu zweifeln, dass das Telefon funktioniert, aber als ich abnehme, ertönt das Freizeichen und macht sich über mich lustig. Als ich den Hörer wieder auflege, kommt mir in den Sinn, dass Rad sich vielleicht entschieden hat, genau in dieser Sekunde anzurufen, und als er nur das Besetztzeichen hörte, aufgegeben oder seine Meinung geändert hat. Oh bitte, lass ihn bitte bei mir anrufen, flehe ich den Gott an, an den Rad nicht glaubt. Was tun sie denn dort? Sie können doch nicht ausgerechnet heute Abend essen gegangen sein, jetzt wo Lexi weg ist und ich in der Verbannung schmachte. Vielleicht hat er mich schon eine ganze Weile gehasst und nur auf eine Gelegenheit gewartet, mich loszuwerden. Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab und rechne nervös nach, um welche Zeit sie wahrscheinlich aus dem Restaurant zurück sein werden. Ich rechne aus, wie lange es dauert, bis sie hingefahren sind, geparkt haben, bestellen, essen, zahlen und wieder zurückfahren. Als der festgelegte Augenblick naht und vorbeigeht, fängt die Zeit, die sich den ganzen Abend über quälend hingezogen hat, an zu rasen, und es ist Mitternacht, und alle Hoffnungen sind zerstört.
Mutter kommt hoch, bringt mir eine Tasse heiße Schokolade - ich habe das Abendessen verweigert - und überredet mich, ins Bett zu gehen. Ihre Geduld, was Rad betrifft, lässt nach: Wenn sie ihn vor mir in die Finger bekommt, wird sie ihm sicher die Meinung sagen. Ihre Loyalität mir gegenüber ist rührend, aber auch lästig. Ich bin vom Weinen erschöpft, als wäre all meine Energie mit dem Salzwasser ausgelaufen. Ich komme mir vor wie eine leere Batterie. In dieser Nacht besteht mein Schlaf aus einer Reihe angenehmer Träume, aus denen ich mit einem flüchtigen Gefühl der Erlösung erwache, auf das niederschmetternde Enttäuschung folgt, wenn ich mich erinnere.
Am Morgen steht ein Pappkarton mit meinen Schuhen, meinem Portemonnaie und den restlichen Klamotten, die ich in Frances‘ Schrank aufbewahrt hatte, vor der Haustür. Rad muss sie mitten in der Nacht vorbeigebracht haben, damit er mich nicht sehen muss. Ich durchwühle verzweifelt den Inhalt, in der Hoffnung, ein paar Zeilen zu finden, einen Zettel mit seiner Handschrift, irgendwas, aber natürlich ist da nichts. Er hat nicht mal meinen Namen auf den Karton geschrieben. Die Kleider sind ordentlich zusammengelegt. Ich kann mich nicht entscheiden, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, aber ein Zeichen ist es sicherlich. Ich sehe überall Omen: Der blaue Himmel bedeutet Hoffnung; die einzelne Elster eine Katastrophe. Wenn ich wieder oben bin, bevor Mutter mich ruft, wird er anrufen; wenn nicht, dann nicht. Mitten auf der Treppe fragt sie mich, ob ich frühstücken will, und ich reiße ihr fast den Kopf ab.
Um neun Uhr kapituliere ich und wähle die Nummer der Radleys. Es ist die einzige außer meiner eigenen, die ich auswendig kenne. Ich kann den Hörer kaum halten, so verschwitzt sind meine Handflächen. Ich weiß noch nicht, was ich sagen will, und als das Telefon zehnmal geklingelt hat, ist mein Mund sowieso ausgetrocknet. Ich bete, dass nicht Mr. Radley abnimmt. Einer Konfrontation mit ihm fühle ich mich noch nicht gewachsen. Schließlich ist da ein Klicken und ein knappes »Ja?« von Rad, und ich schaffe nicht mehr als ein »Hallo«, bevor er das Gespräch unterbricht. Ich rufe sofort noch einmal an. Meine Würde ist inzwischen tödlich kompromittiert, und ich bin zu verzweifelt, mir um irgendetwas anderes Gedanken zu machen, als wie ich mir Gehör verschaffen kann. Niemand nimmt ab.
»Ich gehe rüber«, sage ich zu Mutter. Sie sieht beunruhigt aus: Sie ist immer noch misstrauisch, was die Herkunft der Kratzer an meinen Beinen angeht, und außerdem der festen Überzeugung, dass ich die Geschädigte bin und deshalb auf die Entschuldigung warten sollte, die mir gebührt. Sie empfiehlt mir, meine Nase zu pudern, als würde das den Ausschlag geben. Als ich in den Spiegel sehe, verstehe ich ihre Beweggründe, aber meine Wiederherstellungsversuche sind zum Scheitern verurteilt. Meine Haut ist vom Weinen so angespannt und glänzend, dass das Puder nicht hält, und beim Auftragen von Mascara auf die nassen Lider bilden sich Halbmonde mit verschmierten Strichen und Klecksen wie Ausrufungszeichen.
Ich habe nicht vor, mit leeren Händen hinzugehen. Als Rache für das anonyme Paket vor der Tür werde ich die Ausgabe von Goodbye to All That zurückgeben, die Rad mir vor zwei Sommern geschenkt hat. Das erscheint mir angemessen. Noch während meiner Vorbereitungen kann ich nicht ganz glauben, dass ich den Mut habe, hinzugehen. Ich weiß nicht, ob ich nicht nur dort herumhängen, das Haus beobachten und wieder heim schleichen werde. Der Bus ist voll, und ich muss stehen, taumele und torkele jedes Mal, wenn wir um eine Ecke biegen. Ich fühle mich wie Marie-Antoinette in ihrem Karren - und mit genauso viel Vertrauen in den Ausgang meiner Reise. Ich betrachte die ausdruckslosen Gesichter der anderen Fahrgäste: Sie sind benommen wie alle Leute, die in Massen zur Arbeit transportiert werden. Sie glauben wahrscheinlich, ich bin eine von ihnen, eine weitere Arbeitsbiene. Sie können sich nicht vorstellen, in welcher Zwangslage ich stecke; dass ich auf dem Weg zu einem Treffen bin, das vielleicht über den weiteren Verlauf meines Lebens entscheiden wird.
Frances öffnet die Tür. »Oh«, sagt sie, »du bist‘s.« Sie bittet mich nicht hinein. Wenn überhaupt, schiebt sie die Tür noch ein paar Zentimeter weiter zu. »Was willst du?« Ihre Stimme ist lustlos, nicht direkt feindselig, aber auch nicht warm.
»Rad geht nicht ans Telefon«, sage ich und spüre, wie die Tränen wieder in mir hochsteigen. In meiner Kehle ist eine Schwellung wie eine Faust.
»Weil er nicht mit dir reden will.«
»Ich muss ihm erklären, dass es nicht so ist, wie er denkt.«
»Er weiß, dass du Dad nicht aufreißen wolltest«, sagt sie ungeduldig. Es erscheint mir so seltsam, sie diese Worte sagen zu hören. »Er weiß, dass Dad reinkam und dich geschnappt hat, wegen Mum und all dem. Aber du hast dich nicht gerade gewehrt. Du musst doch gewusst haben, dass Rad so was wirklich nicht ertragen kann.«
»Ich war zu verlegen. Er hatte mir gerade davon erzählt, dass Lexi mit Lawrence durchbrennt. Er hat fast geweint.«
»Wie würdest du dich fühlen, wenn du mich im Schlüpfer auf dem Knie deines Vaters finden würdest?« Das Bild, das sie damit heraufbeschwört, ist so bizarr, so unpassend, dass ich ihren Standpunkt fast verstehe. Sie sind auf ihn wütend, denke ich. Aber ihn haben sie am Hals, deshalb bin ich es, die gehen muss.
»Kann ich nicht einfach mit Rad reden?«
Sie zuckt mit den Schultern und macht mir die Tür vor der Nase zu, als wäre ich irgendein zweifelhafter Vertreter für doppelt verglaste Fenster oder von den Zeugen Jehovas. Einen Augenblick später ist sie wieder da. »Er will dich nicht sehen.« Sie klingt leicht entschuldigend. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie mich nicht persönlich hasst. Sie betrachtet das Buch, das ich in der Hand halte. »Soll ich das Rad geben?«
»Ja. Ich gebe es zurück.«
»Das ist nur fair.« Sie nimmt es.
»Du bist schwach, Frances«, sage ich in einem plötzlichen Anfall von Mut und Entrüstung. »Du weißt, dass ich keine Schuld habe. Du hättest für mich eintreten müssen. Das ist was zwischen Rad und eurem Dad. Das hat nichts mit uns zu tun.«
»Unsere Familie ist auseinander gebrochen«, sagt sie. »Du bist im Moment mein geringstes Problem.« Und mit einem weiteren Schulterzucken schließt sie die Tür.